Die Europäische Zentralbank (EZB) rüstet sich für ihre neuen Aufgabe als Bankenregulierer. Ein Stresstest im kommenden Jahr soll den Anfang machen. Im Rahmen einer „umfassenden Überprüfung“ will die EZB die Robustheit der Banken prüfen. Die Banken bereiten sich emsig auf den Test vor, indem sie ihre Bilanzen verkürzen oder sich von ihren Eignern frisches Kapital beschaffen. Auf den ersten Blick sieht das alles gut aus, und mit wenigen Ausnahmen dürften die Banken den Stresstest mit Bravour bestehen. Die Rating-Agentur S&P hat bereits jetzt angekündigt, dass der EZB-Test die Bonitätseinschätzungen zu den Banken nur wenig beeinflussen dürfte.
Unsere Banken-Analystin Erin Davis hat diese Gemengelage zum Anlass genommen, sich die Risikotragfähigkeit der europäischen Banken genauer anzusehen. Der Titel ihrer Analyse „Europas Banken sind nicht so gesund, wie es Investoren glauben“ deutet bereits an, dass die heutige Ruhe eine trügerische sein könnte. Wir wollen uns die Studie etwas genauer ansehen. (Sie können die vollständige Version auf Englisch hier herunterladen.)
Mehr Risiko, als die Tier 1 Ratios vermuten lassen
Zunächst zu den Fortschritten, die seit 2010 erzielt wurden. Nach den meisten Maßstäben sind die Banken in der Eurozone (wie auch in Europa insgesamt) viel weniger gefährdet – und somit viel weniger gefährlich – als am Vorabend der Eurokrise. Die Griechenlandanleihen wurden mittlerweile abgeschrieben, die Wirtschaft der Eurozone erholt sich, und die sinkenden Risikoaufschläge bei den Anleihen der Euro-Südländer entspannen die Lage der mit Staatsanleihen vollgesogenen Banken.
Die Kernkapitalquote ist bei den Banken seit 2010 stetig aufgestockt worden. Das so genannte Tier 1 Ratio der 22 Banken, die sich auf der Morningstar-Coverage-List befinden, lag per 30. Juni bei beeindruckenden 13,5 Prozent, 250 Basispunkte über dem Niveau von Ende 2010. Bei Anwendung der Basel III Kritierien für die Eigenkapitalunterlegung von Risiken kommen falls alle untersuchten Banken auf eine Kapitalquote von zehn Prozent, wie die Grafik unten zeigt.
Tabelle: Und alles war gut? Basel III-Kriterien sogar jetzt fast erfüllt
Das Problem an diesem Vorgehen ist, dass das üblicherweise verwendete Risikokapitalmaß, die risikogewichtete Methode, unterstellt, dass die Risiken dort entstehen, wo man sie erwartet. Sie ist rückwärtsgerichtet und orientiert sich an den historischen Volatilitäten der Risiko-Assets, die sich in den Büchern der Banken befinden. Man glaubt also die potenziellen Verlustquellen zu kennen und unterlegt diese mit Risikokapital. Doch so einfach ist das nicht, wie unsere Untersuchung weiter zeigt.
Zunächst einmal ist es nicht erwiesen, dass die Erfüllung üblicher Kapitaladäquanz-Standards Banken auch tatsächlich einen hinreichenden Schutz bietet. Eine Untersuchung der Bank of England von rund 100 gescheiterten und nichtgescheiterten Banken hat gezeigt, dass es keine signifikante Korrelation gibt zwischen der Höhe des Risikokapitals und der Überlebensfähigkeit einer Bank. Die unteren Schaubilder zeigen die Kapitalquoten von gescheiterten (rote Balken) und nichtgescheiterte (blaue Balken) Banken. Das Schaubild links zeigt, dass sich unter den gescheiterten Banken etliche mit - scheinbar - auskömmlichen Risikokapitalquoten befinden.
Doch wenn die das Niveau des Risikokapitals nicht über Scheitern oder Nichtscheitern entscheidet, worauf kommt es dann an? Morningstar-Analystin Erin Davis stellt die These auf, dass es vor allem auf die Fremdfinanzierungsquoten, auch Leverage Ratios genannt, ankommt. Führt man sie als Teil der Gleichung ein, so, wie es im oberen Beispiel rechts die Bank of England getan hat, wird deutlich, dass Banken mit einem großen Hebel deutlich stärker gefährdet waren als Banken mit niedrigem Hebel. „Die hohen Leverages sind nach wie vor ein erheblicher Risikofaktor für langfristig orientierte Anleger“, schlussfolgert Davis.
Banker, Aufseher und Anleger haben die Übersicht verloren
Ein weiteres Problem der Eigenkapitalvorschriften liegt darin, dass die Komplexität der Risikomodelle auch die Experten überfordert: Banker, Regulatoren und Investoren. Schätzungen zufolge sind bei großen Banken über 200 Millionen Rechenschritte nötig, um das Risikokapital zu bestimmen. Diese Komplexität macht es Regulatoren schlicht unmöglich, die einzelnen Schritte nachzuvollziehen. Doch nicht nur das. Auch kleinere Fehler bei der Modellierung der Risiken können dramatische Folgen haben. Wie die US-Bank JPMorgan 2012 bestätigte, führten Modellierfehler dazu, dass der Value-at-Risk, also das Verlustpotenzial im Bankenbuch, um 50 Prozent zu tief angesetzt wurde.
Hinzu kommt, dass jede Großbank mit eigenen, proprietären Risikomodellen arbeitet. Das kann zu großen Abweichungen bei der Bestimmung bzw. Quantifizierung von Risiken führen. Die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) hat jüngst 15 globale Banken gebeten, ein Test-Portfolio durch die jeweiligen internen Modelle „stressen“ zu lassen. Die Standardabweichung bei dem von den 15 Banken errechneten Risikokapital betrug 31 Prozent!
Der Hebel sollte als Zusatzkriterium berücksichtigt werden
Eine wesentlich realistischere Abbildung von Risiken würde durch die Ergänzung der risikogewichteten Kapitalquoten um die ungewichteten Leverage Ratios erreicht. Mit dieser einfachen Methode würde es Investoren viel einfacher gemacht, die Widerstandsfähigkeit einer Bank gegenüber externen Schocks einzuschätzen. Zur Berechnung des Leverage Rations bevorzugen wir das Verhältnis von materiellem Eigenkapital zu Sachanlagen (Tangible Common Equity, TCE). Dabei werden die Nettowerte der Derivatepositionen verwendet.
Unsere Analystin schlägt – je nach Geschäftsmodell der Bank – eine TCE Ratio von fünf bis sieben Prozent vor. Dass dies eine realistische Größenordnung ist für Puffer gegen unerwartete Schocks, zeigen die Untersuchungen im Nachgang der Finanzkrise. Der Internationale Währungsfonds hat berechnet, dass US-Banken zwischen 2007 und 2010 in etwa sieben Prozent ihrer Assets abschreiben mussten. In Europa lag die Quote bei über fünf Prozent. (Der Unterschied dürfte vor allem auf unterschiedliche Bilanzierungspraktiken zurückgehen).
Dass Europas Banken nach dieser Rechnung noch einen weiten Weg vor sich haben, wird klar, wenn man sich die nach wie vor hohen Fremdfinanzierungsquoten vor Augen führt. Nur sechs der 22 Banken auf unserer Coverage-Liste hatten eine TCE ratio von mehr als fünf Prozent, wie die untere Grafik zeigt.
Bereinigt man nun in einem Stress-Szenario das Kapital um aktive latente Steuern (die nur von profitablen Unternehmen gehoben werden können) und führt man gleichzeitig Haircuts von 20 Prozent bei den schwer zu bewertenden Level-3-Assets ein, fällt das Ergebnis noch schwächer aus, wie die untere Grafik zeigt.
Aufgrund dieser Schwachstellen gibt sich die Autorin skeptisch mit Blick auf die Investierbarkeit europäischer Banken. Vor allem die Banken aus der Eurozone erachtet sie als nicht attraktiv. Für Anleger, die dennoch ein Engagement in europäischen Banken planen, empfehlen sich die relativ soliden Häuser HSBC, Standard Chartered, Lloyds Banking Group und UBS. Wer es sportlicher mag, könnte auf Royal Bank of Scotland und auf BNP Paribas schauen, die mit deutlichen Abschlägen auf ihren Buchwert handeln und ein stabiles Retail-Geschäft aufweisen.