Was ist der Euro von morgen wirklich wert? Die wichtigste Aufgabe eines aktiven Value-Investors ist es, den inneren Wert eines Unternehmens richtig einzuschätzen. Denn er will dann kaufen, wenn die Aktie mit einem beträchtlichen Abschlag auf den taxierten Wert gehandelt wird. Und der Value-Investor will dann nicht mehr zu kaufen bzw. ggf. verkaufen, wenn die Aktie mit einem Aufschlag zu haben ist. Die Annahme ist, dass die Vermögenswerte zwangsläufig über einen längeren Zeitraum hin zu ihrem „fairen“ Preis (bzw. beizulegenden Zeitwert) tendieren.
Preise springen oft losgelöst vom inneren Wert wild herum
Allerdings zeigt die Geschichte, dass die Preise auch über Jahre von ihrem Fair Value losgelöst sein können und quasi hilflos in Zyklen aus Angst und Gier hin und herpendeln. In der ganzen Bandbreite des Investierens müssen diese mehr oder weniger kurzfristigen Bewegungen zur Kenntnis genommen und gemanagt werden; die treibende Kraft des Investierens sollte aber immer der Fair Value sein.
Das klingt einfach, ist es aber nicht, da der Hund im Detail begraben ist. Viele populäre Bücher über Finanzanlagen gehen großzügig über Details hinweg und werfen für Praktiker deshalb mehr Fragen auf, als sie beantworten vorzugeben. Viele Gurus schweigen sich aus, wenn es darum geht, die Details und die Kniffe bei der Schätzung des inneren Werts zu benennen. Auch das Konzept, das sie zur Bestimmung des fairen Werts verwenden, bleibt of im Ungefähren. Viele angehende und sogar langjährige Anleger geben sich damit zufrieden und gehen der Sache nicht auf den Grund.
Für den Buffett-Sozius Charlie Munger ist die Ignoranz über das Konzept des inneren Werts gleichbedeutend mit wie dem Versuch eines einbeinigen Mannes, bei einem Arschtritt-Wettbewerb aufzutreten.
Ich finde das seltsam, da der innere Wert die vielleicht wichtigste Kenngröße bei allen Finanzentscheidungen ist. Der Milliardär und Vice Chairman der Investmentgesellschaft Berkshire Hathaway Charlie Munger pflegte zu sagen, die grundlegenden quantitativen Konzepte beim Investieren nicht zu verstehen sei wie der Versuch eines einbeinigen Mannes, bei einem Arschtritt-Wettbewerb aufzutreten.
Als aktiver Investor tätig zu sein, ohne den inneren Wert zu verstehen, ist ein schwerwiegender Fehler. Aber auch passive Investoren sind nicht aus dem Schneider. Hin und wieder spielen die Märkte verrückt. Ein passiver Investor mit einem ausgeprägten Verständnis der grundlegenden Konzepte des fundamentalen Investierens könnte durchaus Vorteile aus dem Wahnsinn der Masse ziehen (oder sich zumindest nicht daran beteiligen).
Ein gutes Beispiel dafür sind die inflationsgeschützten US-Staatsanleihen (Treasury Inflation-Protected Securities; TIPS), die Ende 2008 massiv verkauft wurden. Auch üblicherweise passiv agierende Investoren wie Larry Swedroe stellten sofort das unglaublich günstige Chance-Risiko-Verhältnis dieser angebotenen TIPS fest.
Dieser Artikel ist der erste Teil einer zweiteiligen Serie über den inneren Wert, Diskontierungszinssätze und erwartete Erträge - und wie sie zueinander in Beziehung stehen sowie mit einigen praktischen Ratschlägen zur Anwendung dieser Ideen.
Zeit, Geld und Risiko
Bevor wir uns dem inneren Wert und all den anderen sinnvollen Kennzahlen zuwenden, lassen Sie uns über die Beziehung zwischen Geld und Zeit zu sprechen. Wenn sich jemand Geld leiht, zieht er zukünftige Gewinne in die Gegenwart. Im eigentlichen Sinne nimmt er Geld von seinem zukünftigen Ich und gibt es seinem derzeitigen Ich. Entsprechend verhält es sich, wenn er Geld verleiht: Dann nimmt er Geld von seinem aktuellen Ich und gibt es seinem Zukunfts-Ich. Der Zinssatz für die Kreditaufnahme oder Kreditvergabe ist die Umwandlungsrate, mit der Geld durch die Zeit ausgetauscht wird.
Die Zinssätze unterscheiden sich in Abhängigkeit von der Bonität des Kreditnehmers. Angenommen, Ihr Vater will sich von Ihnen für 10 Jahre 100 Euro borgen und verspricht, am Ende 114 Euro zurückzuzahlen (was einem Jahreszins von 1,3% entspricht). Sie könnten das Geld auch an den anderen Vater, Vater Staat (das ist der mit den Druckmaschinen), zum gleichen Zinssatz und ohne jegliches Kreditrisiko verleihen. Kredite an weniger kreditwürdige Väter zu vergeben ist nur dann sinnvoll, wenn der Zinssatz im Wettbewerb mit Renditen auf ähnlich riskante Investitionen, die zur Verfügung stehen, hoch genug ist.
Die Sache mit dem risikolosen Zins
Lassen Sie uns kurz noch einen Schritt zurücktreten. Zunächst einmal stellt sich die Frage, warum sich die Regierung Geld zu den denkbar niedrigsten Zinsen leihen kann. Weil Investoren weitgehend darin übereinstimmen, dass Bundesanleihen „ohne Risiko“ sind. Die Regierung hat die Macht, eine riesige Wirtschaft zu besteuern, enorme angesammelte stille Reserven und die Kontrolle über die Währung. Zudem haben Anleger seit 2008 nach sicheren Anlagen fast geschrien und sind nun bereit, niedrige Erträge zu tolerieren.
Natürlich sind Bundesobligationen nicht wirklich risikofrei. Abgesehen von dem vernachlässigbaren Ausfallrisiko tragen sie ein Wiederanlagerisiko, also die Möglichkeit, dass die Zinsen unerwartet steigen, und ein Inflationsrisiko, also die Möglichkeit, dass unerwartete Inflation den Wert der zukünftigen nominalen Zahlungen auffrisst. Beide Risiken zeigen sich in der Regel als eine nach oben geneigte Zinsstrukturkurve: Je länger die Laufzeit ist, desto höher der Zins. Auch bei Bundespapieren.
Die Zinsstrukturkurve kann als „reiner“ Wechselkurs von nominalen Euro durch die Zeit gesehen werden, befreit von jedem Kreditrisiko. Es ist enorm wichtig, bei allen Konvertierungen von Geld durch Zeit – Kreditaufnahmen oder Kreditvergaben und damit alle Investitionen – den risikolosen Zinssatz zu berücksichtigen. Es wäre für keinen Investor sinnvoll, Geld zu einem Zinssatz zu verleihen, der unter dem risikolosen Zinssatz liegt, weshalb der Markt die meisten Vermögensanlagen so bewertet, dass sie eine höhere Rendite bieten als der risikofreie Zinssatz. Dieser Aufschlag auf die Rendite sicherer Bonds mit gleicher Laufzeit wird als „Risikoprämie“ bezeichnet.
Der Markt weist natürlich für verschiedene Anlagen unterschiedliche Risikoprämien aus. Im Allgemeinen gilt, dass eine Anlage umso riskanter ist, je höher ihre Risikoprämie ist, oder mit anderen Worten, dass Sie ohne mehr Risiko einzugehen nicht mehr Rendite bekommen können. Aber was ist eine „faire“ Risikoprämie für eine bestimmte Vermögensanlage? Viele Anleger verlassen sich dabei auf die Geschichte. Der US-Aktienmarkt erzielt rund 4 bis 5% mehr als amerikanische Staatsanleihen. Andere Aktienmärkte liegen etwa 3 bis 4% über den lokalen „risikofreien“ Anleihen.
Die „richtige“ Risikoprämie ist eine Frage der Präferenz. Investoren, die Volatilität und lang anhaltende Abschläge tolerieren, sind vielleicht mit Aktienanlagen zufrieden, wenn diese nur einen einprozentigen Aufschlag gegenüber Staatsanleihen bieten. Andere Investoren, die allergisch auf das Risiko reagieren, verlangen eine viel höhere Risikoprämie, um in Aktien zu investieren. Die Marktrisikoprämie wird durch den Kauf und Verkauf vieler Investoren mit unterschiedlichen Präferenzen bestimmt. Die Annahme, dass die historische Risikoprämie fair ist, ist eine Wette, dass die durchschnittliche Risikobereitschaft zur historischen Norm tendiert.
Kurz gesagt, der Zins einer Vermögensanlage, der Ertrag oder die erwartete Rendite berücksichtigen den risikolosen Zinssatz und eine Risikoprämie.
Der innere Wert (Intrinsic Value)
Wir sind nun bereit, uns den Begriffen „innerer Wert (Intrinsic Value)„ bzw. „fairer Wert (Fair Value)“ zu widmen. Er kann als der Wert aller zukünftigen Cashflows eines Vermögenswertes definiert werden, angepasst an ihr Risiko und den Zeitablauf. Eine genauere Definition ist der Kapitalwert (net present value): die Summe der Barwerte aller zukünftigen Cashflows. Lassen Sie uns diese Aussage darlegen.
Ein Cashflow ist eine Zahlung, entweder eingehend oder ausgehend.
Ein Barwert besagt, was ein zukünftiger Cashflow heute wert ist. Ein Euro heute ist mehr wert als ein Euro morgen, wenn man mögliche Kosten und Risiken berücksichtigt. Die jährliche Rate, mit der künftige Euro „abgezinst“ oder „diskontiert“ werden, um den heutigen Eurowert zu ermitteln, heißt passenderweise Diskontierungssatz oder die erforderliche Rendite (required rate of return). Wenn der Diskontierungssatz beispielsweise 10% beträgt, haben 100 Euro in einem Jahr heute nur einen Wert (100 Euro/ (1 + 0,1)) von rund 91 Euro. Der Diskontierungssatz ist eine Kombination aus dem risikolosen Zinssatz und einer Risikoprämie, die ich aber zunächst zusammenwerfen werde.
Im Allgemeinen werden zukünftige Cashflows bis zur Gegenwart abgezinst, durch Multiplikation mit einem „Diskontierungsfaktor“, der die jährlichen Diskontierungszinssätze von der Gegenwart bis zur Zukunft gewichtet. Der Diskontierungsfaktor d wird durch die folgende Gleichung berechnet:
d = 1/(1+r)n,
wobei r der jährliche Diskontierungssatz und n die Anzahl der Jahre von der Gegenwart bis zum Cashflow sind. Der Abzinsungsfaktor ist der Wechselkurs zwischen dem zukünftigen und dem gegenwärtigen Euro. Die Multiplikation eines künftigen Cashflows mit dem entsprechenden Diskontierungsfaktor ergibt den Gegenwartswert (present value):
PV = x/(1+r)n,
wobei der PV der Barwert ist, x die künftigen Cashflows, r ist der Diskontierungssatz und n die Anzahl der Jahre.
Betrachten wir ein Beispiel. Onkel Warren schreibt einen Schuldschein über 1.000 Euro, der in 30 Jahren fällig ist. Der 30-jährige Anleihezinssatz beträgt 3,5% p. a. Da Onkel Warren steinreich ist und als sehr kreditwürdig gilt, weisen Sie ihm eine Kreditrisikoprämie von lediglich 1% zu. Der Diskontierungssatz ist gleich dem Anleihezinssatz zuzüglich der Risikoprämie, so dass unsere erforderliche Rendite 4,5 % beträgt. Wie viel sind wir heute bereit, für Onkel Warrens Schuldschein zu bezahlen? In die obige Formel eingesetzt, erhalten wir:
PV = 1.000 Euro / (1+0,045)30 = 267 Euro.
Ein paar Dinge sind hier zu beachten. Mit abnehmender Restlaufzeit nähert sich der Barwert der Anleihe langsam seinem Nennwert an. Zweitens kann sich der Barwert der Anleihe ändern, weil sich Diskontierungszinssätze ändern können. Dies kann passieren, weil sich entweder der risikofreie Zinssatz ändert oder die Kreditrisikoprämie Veränderungen unterliegt. Auf der Marktebene werden die meisten Preisänderungen durch Änderung des Diskontierungszinssatzes hervorgerufen und nicht durch veränderte Erwartungen hinsichtlich der Zahlungsströme.
Den Fair Value zu berechnen ist zunächst eine Frage der Ermittlung der zukünftigen Cashflows eines Vermögenswertes und dann die Anwendung der richtigen „Wechselkurse“, um sie auf den aktuellen Gegenwartswert abzuzinsen. Natürlich zahlen viele Vermögensanlagen regelmäßig aus. Bei der Berechnung des Barwerts für solch eine Vermögensanlage ist jede Zahlung bis zur Gegenwart zu diskontieren und dann die Summe aller aktuellen Barwerte zu ermitteln.
Was bedeutet das nun für einen Vermögenswert, der im Vergleich mit seinem Fair Value über- oder unterbewertet ist? Wenn der Preis unter dem Fair Value ist, bedeutet es entweder, dass der Markt eine zu hohe Risikoprämie für die künftigen Cashflows des Vermögenswerts annimmt, oder, dass die Schätzungen der Cashflows, die der Markt dem Vermögenswert zuweist, zu niedrig sind (oder beides). Wenn der aktuelle Preis über dem beizulegenden Wert liegt, bedeutet dies entweder, dass der Markt eine zu geringe Risikoprämie annimmt, oder, dass die Schätzungen der künftigen Cashflows zu hoch sind.
Die zentrale Botschaft dieser Einführung ist, dass alle Vermögenswerte einen Ertrag oder eine erwartete Rendite aufgrund zukünftiger Cashflows haben und dass sich diese zukünftigen Cashflows in heutige Euros umrechnen lassen. Die Rate, mit der sich künftige Euros in heutige Euros umrechnen lassen, muss den risikofreien Zinssatz und eine Risikoprämie berücksichtigen.