Auf meinem Schreibtisch liegt ein Aufsatz, der belegen will, inwiefern Anlagevorlieben mit dem Charakter des Investors korrelieren. Da wir heute das Jahr 2017 schreiben und uns nicht in der Reagan-Ära der 1980er Jahre befinden, ist die Arbeit recht sophistiziert – es geht nicht darum zu belegen, dass Bergsteiger Aktien und Bibliothekare Anleihen gut finden. Derartige vermeintliche Beweise, dass Menschen mit einer Affinität zu körperlichen Risiken eher in Aktien investieren, kommen und gehen - und sie wurden im Großen und Ganzen widerlegt. Nein, bei diesem geht es darum, welcher Menschentyp welchen Anlagestil bevorzugt, und er stützt sich auf einen beeindruckenden Datenkranz und ein ambitioniertes Design.
Zunächst zum Titel: „Persönlichkeitseigenschaften und Portfolioneigungen hin zu Substanzwerten und Nebenwerten“ (im Original lautet der Titel: „Personality Traits and Portfolio Tilts Towards Value and Size“). Eine deartige Überschrift kann nur aus der Feder eines Professors stammen. Es handelt sich genauer gesagt um zwei Verfasser: Andrew Conlin und Jouko Miettunen lehren an der Universität des frostigen finnischen Städtchens Oulu. (Im Januar liegt die Durchschnittstemperatur dort bei minus acht Grad Celsius).
Wie sich nach ein wenig Recherche herausstellt, hat Finnland neben einem kalten Klima auch eine recht eigene Einstellung zum Datenschutz, die sich sehr von den Praktiken in den USA unterscheidet. Die Autoren waren in der Lage, anhand der Akten der zentralen finnischen Wertpapierverwahrstelle zu ermitteln, in welchen Aktien Anleger aus Finnland wann investiert waren sowie die Anzahl der jeweiligen Aktien und der Wert jeder Position. Darüber hinaus hatten sie Zugang zu den Ergebnissen von Psychologietests der Investoren aus Nordfinnland ab dem Jahrgang 1966. Zumindest für Anlageanalysten ist Finnland also der Himmel auf Erden!
Dem Anlegertemprament auf der Spur: Der TCI-Test
Das psychologische Profil, auf das sich die Wissenschaftler stützen, gibt die Ergebnisse des sogenannten „Temperament and Character Inventory“ (TCI) Tests wider, der Temperament- und Charaktereigenschaften prüft. Wie die Autoren darlegen wird dieser Test „umfassend in Bereichen der Medizin und der Psychiatrie eingesetzt.“ Der TCI-Test misst vier Persönlichkeitseigenschaften, von denen die Autoren für ihre Studie wiederum zwei ausgewählt haben: Sie wollen solche Investoren ausgemacht haben, die sich auf der „Suche nach Neuem“ befinden sowie jene, die „nach Belohnung streben“.
1) Suche nach Neuem: Der Typus „Suche nach Neuem" misst den Grad, nach dem jemand ein aktives Verhalten als Reaktion auf Stimuli an den Tag legt und aktiv nach Genuss und Belohnung sucht, wenn beides zurzeit nicht verfügbar ist. Deutlicher ausgedrückt: Menschen, die hohe Werte beim Persönlichkeitsparameter „Suche nach Neuem“ erzielen, sind schnell gelangweilt. Geduldige Menschen hingegen erreichen niedrige Werte.
2) Abhängigkeit von Belohnungen: Die Belohnungsabhängigkeit misst, inwieweit jemand emotional und mit welcher Geschwindigkeit auf soziale Stimuli reagiert. Menschen, die hier hohe Werte erreichen, ist es sehr wichtig, was andere über sie denken. Sie agieren oft anhand von Erwartungen an ein bestimmtes Sozialverhalten, die andere an sie Stellen. Umgekehrt stehen diejenigen mit niedrigen Werten den Erwartungen der Allgemeinheit gleichgültig gegenüber. Sie lassen sie schlicht und ergreifend kalt.
Aus den Details der beiden Typologien haben die beiden Autoren unter Verwendung der Portfoliodaten der finnischen Wertpapierverwahrstelle und des TCI-Tests folgende Anlegermerkmale zusammengebastelt:
1) Extravagante Menschen bevorzugen bei Investments großkapitalisierte Wachstumswerte;
2) Impulsive Menschen bevorzugen kleinkapitalisierte Wachstumsaktien;
3) Sentimentale Menschen bevorzugen kleinkapitalisierte Substanzwerte;
4) Gesellige Menschen bevorzugen generell Nebenwerte (mit einer leichten Schlagseite hin zu Substanzwerten).
In diesem Kontext bedeutet "extravagant" eine Affinität zu exzessivem Konsum. Mit "impulsiv" ist die Bereitschaft gemeint, Entscheidungen auch ohne vollständige Informationen zu fällen. "Sentimental" heißt in diesem Kontext, dass ein Mensch eine Tendenz hat, sich von emotionalen Stimuli beeinflussen zu lassen. "Geselligkeit" unterstellt den Hang, sich Gruppen anzuschließen und sich anderen schnell verbunden zu fühlen.
Erkennen Sie sich hier wieder?
Meine persönliche Schlussfolgerung: Die ersten zwei Punkte ergeben durchaus Sinn. Extravaganz und Impulsivität wären zwar nicht unbedingt die wörtlichen Begriffe, die ich verwenden würde, um Fans des Growth-Stils zu beschreiben. Aber nach zahllosen Gesprächen mit Growth-Fondsmanagern in den vergangenen Jahren würde ich schon eine Gewisse Nähe zu diesen Typologien zugestehen.
Dagegen habe ich Schwierigkeiten, Sentimentalität und Geselligkeit mit dem Growth/Value-Paradigma in Einklang zu bringen. Ich muss gestehen, dass ich noch kein Anlegerraster für die Vorlieben für Large- oder Small-Caps entwickelt habe. Wenn sich die Investoren, die in große Unternehmen investieren, tatsächlich von jenen unterscheiden sollten, die ihr Geld in kleinen Unternehmen anlegen, so ist mir der Unterschied bisher nicht aufgefallen. (Aber wer bin ich, der noch nie in einer Psychologie-Vorlesung gesessen habe und erst seit kurzer Zeit von der Existenz des TCI-Fragebogens weiß, um hier herumzukritisieren?)
Glaube versus Nachweis
Es entspricht dagegen meiner Erfahrung, dass Growth-Aktienfondsmanager Optimisten sind. Sie glauben, dass die USA heute das großartigste Land der Welt ist und jetzt die beste aller Zeiten ist, um dort zu leben. Sie glauben, dass die Unternehmen, in die sie investieren, Großartiges leisten werden. Sie zahlen höhere Preise für ihre Investments als andere Investoren, weil sie ja als Ausgleich dafür etwas (vermeintlich?) Besseres erhalten. Sie müssen Glauben, denn andernfalls würden sie aufhören, in teure Aktien zu investieren.
Dieser Glaube führt zu Vertrauen. Growth-Fondsmanager verlassen sich viel eher darauf, was Unternehmenslenker und CFOs ihnen erzählen. In Manager-Interviews habe ich oft gefragt, warum er oder sie eine bestimmte Aktie gekauft hat – um dann 1:1 die PR-Botschaft des betreffenden Unternehmens aus dem Mund des Fondsmanagers oder der Fondsmanagerin zu vernehmen. Macht sie das gesellig oder sentimental? Vielleicht. In jedem Fall sind sie extrovertiert.
Ja, ich würde der Aussage zustimmen, dass Growth-Aktienfondsmanager dazu tendieren, extravagant und impulsiv zu sein. Das erste fußt auf der Definition -- extravagant bedeutet schließlich – siehe oben! - die Tendenz zu exzessivem Konsum: Growth-Manager geben in der Tat mehr Geld aus! Und der Hang zur Impulsivität ließe sich daraus ableiten, dass sie Hoffnungen und Träume kaufen. Sie haben gar keine andere Wahl, als impulsiv zu sein! Sie treffen Entscheidungen aufgrund von unvollständigen Informationen. Das ist keine Aufgabe für diejenigen, die nach Präzision verlangen.
Value-Manager: Pessimistisch, skeptisch sucht ...
Ganz anders dagegen der Value-Manager. Vielleicht wäre es übertrieben, Investoren in günstig bewertete Substanzaktien als Pessimisten zu bezeichnen - Pessimisten kaufen nämlich gar keine Aktien! Value-Manager sind vielmehr Skeptiker. Sie glauben durchaus, dass goldenene Zeiten anbrechen werden, in denen die Preise "ihrer" Aktie durch die Decke gehen. Doch sie dämpfen ihre Erwartungen. Es geht ihnen also nicht darum, großartige Unternehmen zu kaufen -- „ziemlich gut“ ist ihnen gut genug.
Value-Manager investieren, indem sie in den Rückspiegel schauen und nicht nach vorne. Sie wissen nicht, was die Zukunft ihren Unternehmen bringen wird. Sie wissen aber, wie sich ähnliche Investitionen in der Vergangenheit bezahlt gemacht haben. Sie sind Markthistoriker, und die Wahrscheinlichkeit ist bei ihnen viel, viel größer, dass sie sich an die akademische Literatur halten als das bei einem Growth-Aktien-Manager der Fall wäre. Ich haben noch nie einen Finanz-Professor getroffen, der zugleich Growth-Investor wäre!
Natürlich vertrauen Value-Manager nicht den Unternehmenslenkern. Warum sollten sie? Gut geführte Unternehmen kosten in aller Regel mehr, als ein Value-Manager bereit ist zu zahlen. Value-Investoren halten sich an Unternehmen, deren Lenker ihre Versprechen gebrochen haben oder die sich in einem unprofitablen Sektor befinden. Möglicherweise könnten die Manager dieser Unternehmen wertvolle Hinweise liefern, aber es ist aus der Value-Sicht besser, nicht zu viel von ihnen zu erwarten. Stattdessen vertrauen sie lieber den historischen Wahrscheinlichkeiten - und den Daten.
Die nächsten Schritte
Die Autoren aus Finnland schließen mit dem Hinweis, dass die von ihnen ermittelten Anleger-Typologien zur Erklärung beitragen können, warum Value- und Small-Cap Investoren über die Zeit höhere Renditen einstreichen konnten. Vielleicht sollten die bisher bestehenden Asset-Pricing-Modelle überarbeitet werden, um diesen Merkmalen Rechnung zu tragen? Es könnte sogar möglich sein, diese Aufgabe zu bewältigen und zugleich die Annahme der Rationalität von Investoren beizubehalten.
Meine Schlussfolgerung ist dagegen weniger theoretisch. Menschen tun das, was sie tun möchten. Für die meisten Investoren ist die Verbindung zwischen Persönlichkeit und Investmentstil unerheblich – sie werden eine Hand voll breit diversifizierter Fonds besitzen und dementsprechend wird sich ihr Portfolio nicht stark in Richtung eines bestimmten Stils ausrichten.
Investoren, die dagegen tiefer in die Materie einsteigen, werden vermutlich tatsächlich ihren Präferenzen folgen, und hier könnte durchaus die Persönlichkeit ins Spiel kommen. Ich weiß jedenfalls, dass das bei mir so ist. In meinem Portfolio überwiegen die Value-Eigenschaften, und wenn Sie meine Kolumnen regelmäßig lesen, wird ihr Portfolio vermutlich ähnlich gestrickt sein -- ich wäre jedenfalls sehr überrascht, wenn sich unter meinen Lesern viele Growth-Aktien-Investoren tummeln würden.