Laut Eurostat-Schätzung ist die Inflation im Euroraum im Oktober 2022 auf einen Höchstwert von 10,7% (September: 9,9%) gestiegen – und damit deutlich stärker als erwartet. Der Druck auf die Europäische Zentralbank (EZB) steigt damit einmal mehr – zumal ihre Prognosen für das 4. Quartal auf deutlich niedrigeren Teuerungsraten basieren.
Wieder ist es der Faktor „Energie“, der reinhaut: Diese Kosten stiegen auf Jahressicht um satte 41,9% (September: 40,7%). Die Spanne zwischen den einzelnen Mitgliedsländern ist hoch - sie reicht von 7,1% in Frankreich bis zu 22,4% in Estland.
“Die Inflationsrate hat ihren Höhepunkt vermutlich noch nicht erreicht. Im Gegenteil, sie könnte bis Ende des Jahres auf über 11% steigen“, schreibt Christoph Weil, Senior Economist bei der Commerzbank. Zwar dürfte die Inflationsrate im kommenden Jahr mit der Beruhigung am Energiemarkt sukzessive nachlassen. Doch noch haben Unternehmen die Kosten nicht vollständig an die Konsumenten weitergegeben. Zudem mehren sich die Anzeichen von kräftigen Lohnerhöhungen, so sein Argument.
Europäische Zentralbanken in Zugzwang
Die EZB hatte erst am 27. Oktober ihren Leitzins um 75 Basispunkte auf 2% angehoben. Ein weiterer Zinsschritt dürfte im Dezember folgen. „Die heutigen Daten erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass die EZB die Leitzinsen im Dezember erneut um 75 Basispunkte anhebt zumal die Wirtschaft Euroraum im dritten Quartal um 0,2% gegenüber dem zweiten Quartal gewachsen ist“, heißt es von der Commerzbank am Montag.
Silvia Dall'Angelo, Senior Economist bei Federated Hermes Limited, erwartet, dass der Schritt in einem langsameren Tempo von vielleicht 50 Basispunkten erfolgen wird. "Die EZB bekräftigte zwar ihre Entschlossenheit, die hohe Inflation zu bekämpfen, und erwartet weitere Zinserhöhungen in der Zukunft, doch war der Ton der Pressekonferenz vorsichtiger und weniger falkenhaft als bei früheren Sitzungen“, blickt der Ökonom zurück. EZB-Präsidentin Christine Lagarde betonte vor allem die Abwärtsrisiken für das BIP-Wachstum und die erhöhte Wahrscheinlichkeit einer Rezession. Sie räumte ein, dass das Basisszenario, das der Stab im September vorgelegt hatte, jetzt zu optimistisch erscheint.
Auch AXA Investment rechnet mit einem Zinsschritt von 50 Basispunkten im Dezember. Die Kerninflation werde bis Jahresende hoch bleiben, das Lohnwachstum anziehen und ein ähnlicher Schritt werde von Seiten der Fed erwartet. Allerdings dürfte die konjunkturelle Entwicklung die EZB ausbremsen. „Mitte März wird das Ausmaß der Rezession sehr viel klarer sein und die EZB wahrscheinlich davon abhalten, weitere Zinserhöhungen zu beschließen“, lautet die Prognose von Hugo Le Damany und François Cabau von AXA Investment Managers.
In ähnlicher Gemengelage befinden sich andere europäische Zentralbanken, die ebenfalls weitere Zinsschritte einläuten dürften: Den Erwartungen zufolge wird die Bank of England am Donnerstag mit einem Schritt in gleicher Höhe von 0,75 Basispunkten. Das wäre der größte Zinsschritt seit 33 Jahren.
Auch in der Schweiz wird bis Jahresende mit einem weiteren Zinsschritt in ähnlicher Höhe gerechnet. Die Schweizerische Nationalbank (SNB) hatte im September mit einer Erhöhung um 75 Basispunkte auf 0,5% die Ära der Negativzinsen beendet.
"Eine Rezession in den Industrieländern dürfte wahrscheinlich sein und die Inflation hoch bleiben. Die Zentralbanken sind in einer schwierigen Lage, da sie die Inflation in einer Situation bekämpfen müssen, in der das Wachstum bereits gefährdet ist“, kommentiert Tiffany Wilding, Ökonomin für Nordamerika bei PIMCO.
Gas- und Strompreis zuletzt rückläufig
Zumindest bei den Energiepreisen zeichnete sich zuletzt etwas Entspannung ab. Warme Temperaturen sorgen dafür, dass die Gasnachfrage für die Jahreszeit ungewöhnlich niedrig ist. Statt Gas aus den Speichern zu entnehmen, wird auch zu Beginn des Winterhalbjahres noch eingespeichert. Die Speicher in der EU waren am 31. Oktober zu 94,34% gefüllt und damit deutlich über dem von der Europäischen Kommission gesetzten Ziel von 90% zum Stichtag 1. November.
Am kontinentaleuropäischen Leitmarkt, der niederländischen TTF, ist der Frontmonat (Gas zur Lieferung im kommenden Monat) auf rund 125 EUR/MWh gefallen und damit auf den niedrigsten Stand seit Ende Juni.
Die Preise am Spotmarkt (für kurzfristige Lieferungen in der nächste Stunde) fielen Ende Oktober zwischenzeitlich ins Negative. In Spanien kommt so viel verflüssigtes Erdgas (LNG) an, dass die Schiffe nicht gelöscht werden können. Europäer überbieten routiniert Käufer aus anderen Regionen – das habe allerdings zu deutlichen Verzerrungen auf dem globalen LNG-Markt geführt, mahnte die Internationale Energieagentur IEA in ihrem jüngsten Gasmarktbericht.
Speicherbestände über 33% halten
Die Agentur hat für Europas Gasmarkt verschiedene Szenarien durchgerechnet. Das Ergebnis: Sollten russische Lieferungen nach Europa ab November komplett ausfallen, dann stellt laut IEA eine Kältewelle zum Ende der Heizperiode die größte Gefahr dar. Späte Kälteeinbrüche sind eine besondere Herausforderung für das Gasnetz, weil die Lieferfähigkeit der Speicherstätten mit sinkendem Gasvorräten fällt.
„Unsere Analyse zeigt, dass die Aufrechterhaltung eines angemessenen Lagerbestands bis zum Ende der Heizsaison - mindestens 33% ihrer Arbeitsspeicherkapazität als Minimum - für einen sicheren Winter entscheidend sein wird“, so IEA. Im Zweifel muss die Nachfrageseite mithelfen.
Eine Reduzierung der Nachfrage um 9% im Vergleich zum Durchschnitt der letzten fünf Jahre ist notwendig, um die Speichermengen über 35% zu halten, sofern sich Europa weiterhin hohe Mengen LNG am Weltmarkt sichern kann. Ein Minus von 13% ist indes erforderlich, um im Falle eines geringeren LNG-Zuflusses ein Speicherniveau von 33% zu halten. „Daher wird die Umsetzung von Gaseinsparungsmaßnahmen von entscheidender Bedeutung sein, um die Speicherentnahmen zu minimieren und Vorräte bis zum Ende der Heizperiode auf einem angemessenen Niveau zu halten“, so die IEA.
Wenig hilfreich für Käufer aus dem Euroraum ist die schwächelnde Gemeinschaftswährung – sie hat gegenüber der US-Währung seit Jahresbeginn rund 12,7% an Wert verloren. Schließlich wird nicht nur LNG in Dollar notiert, sondern auch Rohöl und andere Rohstoffe (und da wären wir wieder beim Thema Inflation).
Vereinigtes Königreich: Ereignisreicher Oktober
Aber blicken wir ins Vereinigte Königreich, das im Oktober für reichlich Schlagzeilen sorgte. Liz Truss ging nach 45 Tagen im Amt. Neuer Premierminister ist Rishi Sunak, der versprach, er wolle die Fehler seiner Vorgängerin beheben.
"Sie hatte nicht unrecht, wenn sie das Wachstum in diesem Land verbessern wollte", sagte er bei seiner Antrittsrede. "Das ist ein nobles Ziel. Und ich bewundere ihren unermüdlichen Willen, etwas zu verändern. Aber es wurden einige Fehler gemacht. Nicht aus bösem Willen oder schlechten Absichten heraus. Eher das Gegenteil ist der Fall. Aber es waren trotzdem Fehler. Und ich bin auch zum Vorsitzenden meiner Partei gewählt worden, um sie zu korrigieren. Und diese Arbeit beginnt sofort", so der von seiner Partei ins Amt gewählte neue Premierminister.
Die Turbulenzen in London setzten die britische Währung kräftig unter Druck. Gegenüber dem US-Dollar hat das Pfund Sterling seit Jahresbeginn über 16% verloren und präsentiert sich damit noch schwächer als der Euro.
Die ursprünglich für den 31. Oktober vorgesehene Haushaltserklärung des Vereinigten Königreichs wurde nun auf Mitte November verschoben. Das Parlament werde am 17. November eine vollständige Erklärung hören. "Unsere oberste Priorität ist die wirtschaftliche Stabilität und die Wiederherstellung des Vertrauens, dass das Vereinigte Königreich ein Land ist, das seinen Verpflichtungen nachkommt", sagte Finanzminister Jeremy Hunt gegenüber der BBC.
Zwar dürfte sich das Pfund mit den politischen und fiskalischen Änderungen von seiner „UK-Risikoprämie“ befreien, schreibt die Deutsche Bank. Doch das Haushaltsdefizit bleibt hoch. Die Bank erwartet daher, dass die Schwäche des britischen Pfundes gegenüber Euro und Dollar anhält.
Ähnlich sieht es Steven Bell, Chefvolkswirt bei Columbia Threadneedle Investments für die EMEA-Region. Zwar habe sich die Währung zuletzt gut erholt. „Weil aber die Konjunkturschwäche immer deutlicher zutage tritt, wird Großbritanniens riesiges Leistungsbilanzdefizit die Währung belasten“, so Bell. Er verweist zudem auf die Rolle des Pfundes als „risikofreie“ Währung. „Sie entwickelt sich gut, wenn sich Aktien erholen, wie es in den letzten zwei Wochen der Fall war. Wenn dagegen Aktien, wie wir erwarten, in den nächsten Monaten weiter unter Druck geraten, dürfte das britische Pfund erneut schwächeln – und könnte das Jahr durchaus unter der Parität zum Dollar beenden“, meint er.
Aktienmärkte weiter unter Druck
Die Aktienmärkte präsentieren sich in der Gemengelage aus Krieg, Inflation, Energiekrise, steigenden Zinsen und möglicher Rezession alles andere als rosig. Fast 19% liegen die europäischen Märkte seit Jahresbeginn im Minus. Stabiler mit einem Minus von 11,4% präsentieren sich die USA, wie aus den Morningstar-Indizes hervorgeht.
„Europa befindet sich im Auge des Sturms, vor allem wegen der Nähe zum Ukraine-Krieg und seiner direkten Abhängigkeit von russischer Energie. In Wahrheit sind die Auswirkungen des Krieges jedoch globaler Natur, und die Energiepreise werden sich wahrscheinlich im Laufe der Zeit weltweit angleichen. Die chinesischen Blockaden halten an und schränken den inländischen Verbrauch und die globalen Lieferketten ein, während die zunehmenden Spannungen zwischen China und den USA langfristige Auswirkungen auf die Weltwirtschaft haben könnten“, fasst es Mark Heslop, Investment Manager, European Equities bei Jupiter, zusammen. Er verweist darauf, dass die Kurs-Gewinn-Verhältnisse wieder auf dem Niveau sind, wo sie während der Eurozonen-Krise lagen.
„Es mag berechtigte Gründe dafür geben, dass US-Unternehmen mit einem Aufschlag gehandelt werden, obwohl ein starker US-Dollar keiner davon ist, aber die Diskrepanz ist heute so extrem wie nie zuvor. Auf der Basis des erwarteten Kurs-Gewinn-Verhältnisses handelt der US-Markt (S&P 500) mit einem Aufschlag von 44% gegenüber dem europäischen Markt (STOXX Europe). Im Vergleich dazu liegt der durchschnittliche Aufschlag seit August 1995 bei 19%“, so Heslop. Also auch in diesen Zeiten ergeben sich Anlage-Chancen. Morningstar Investment Specialist Valerio Baselli hat beispielsweise 10 hochwertige europäische Aktien identifiziert.
Steven Bell von Columbia Threadneedle Investments meint: "Die Aktienkurse sind bereits stark gefallen und die Investoren rechnen mit einer wirtschaftlichen Schwäche. Es könnte durchaus zu einem weiteren Ausverkauf von Risikoanlagen kommen, der sich bis ins Jahr 2023 fortsetzt, aber das könnte eine Kaufgelegenheit sein.“
Denn man darf nicht vergessen, dass eine Rezession ins Haus steht, insbesondere in Deutschland. "Es wird eine Rezession mit Ansage, aber sie wird zeitlich begrenzt bleiben. Die Unternehmen sind – auch dank staatlicher Unterstützung – gut vorbereitet, und es werden kaum Arbeitsplätze verlorengehen. Die eigentlichen Herausforderungen für den Standort Deutschland liegen nicht in der Bewältigung der Rezession, sondern in der Zeit danach. Dann muss intensiv daran gearbeitet werden, die Energie-Standortbedingungen in Deutschland wettbewerbsfähig zu gestalten“, so Heslop.
„Die Ergebnisse des dritten Quartals können nicht beeindrucken“, sagt Barclays-Stratege Emmanuel Cau im Interview mit Bloomberg. Alles in allem lässt sich die Berichtssaison wohl als durchwachsen beschreiben - sie ist aber auch kein Fiasko. Während die Umsätze durchaus steigen, schrumpfen die Gewinnmargen wegen der Inflation.