Die europäischen Gaspreise sind längst wieder auf dem Niveau von vor dem Krieg. Selbst die jüngste Kältewelle in Europa hat den Abwärtstrend nicht stoppen können. Die gesamte Futures-Kurve hat sich nach unten bewegt, was darauf hindeutet, dass die Marktteilnehmer hinsichtlich der Gasversorgung optimistischer geworden sind. Entlang der gesamten Kurve bis ins Frühjahr 2024 liegt der Preis zwischen 63 und 74 Euro pro Megawattstunde. Noch vor 45 Tagen waren die Erwartungen etwa doppelt so hoch.
Ein ungewöhnlich milder Start in den Winter hat geholfen. Nach Angaben des Branchendienstes ICIS lag die Gasnachfrage in den europäischen Ländern im vierten Quartal 20% unter dem Durchschnitt der vorangegangenen fünf Jahre. Besonders bemerkenswert ist der Rückgang des industriellen Verbrauchs.
„Trotz des starken Rückgangs des Gasverbrauchs haben wir derzeit keinen drastischen Rücksetzer der Industrie- und Fertigungsproduktion in Europa, hauptsächlich dank verschiedener Maßnahmen zur Energieeffizienz, beispielsweise durch die Änderung der verwendeten Brennstoffe oder den Import besonders energieintensiver Produkte wie Ammoniak oder Stahl“, kommentiert Giovanni Sgaravatti, Research Analyst bei Bruegel, einer Denkfabrik mit Sitz in Brüssel. „Das ist eine gute Nachricht, auch wenn einige Branchen – etwa die Chemie – besonders stark darunter leiden.“
Die Speicher sind aktuell zu rund 78,5% gefüllt, verglichen mit einem typischen Füllstand von 60% zu dieser Jahreszeit. Kurz gesagt, dank Glück beim Wetter, Effizienzmaßnahmen und der verstärkten Nutzung von LNG (Liquefied Natural Gas) musste nicht allzuviel ausgespeichert werden.
Allerdings macht russisches Gas noch immer mehr als 40% der bestehenden Reserven Europas für diesen Winter aus. „Bei der derzeitigen Nachfrage bedeutet dies, dass Europa 30% des globalen LNG-Marktes aufsaugen müsste, um sicher bis zum Frühjahr 2024 zu gelangen“, warnt Justin Thomson, Head of International Equity bei T. Rowe Price.
„Obwohl Putins Versuch, Europas Abhängigkeit von russischem Gas als Erpressungsinstrument zu nutzen, gescheitert ist, steht Europa immer noch vor der großen Herausforderung, sicherzustellen, dass der Energiebedarf im Winter 2023-2024 und darüber hinaus gedeckt ist.“
Engpässe bei LNG
Per Pipeline kommt nur noch wenig russisches Gas in die Europäische Union. Die Mengen im Jahr 2023 über die Ukraine und die Turkstream-Pipeline dürften bei rund 25 Milliarden Kubikmeter liegen, verglichen mit 150 Mrd. Kubikmeter im Jahr 2021. Um die Lücke zu schließen, hat die EU ihre LNG-Importe von 74 Mrd. Kubikmeter im Jahr 2021 auf 123 Mrd. Kubikmeter im Jahr 2022 fast verdoppelt. Etwa ein Drittel des im vergangenen Jahr importierten LNG stammte aus den USA, die damit zum weltgrößten LNG-Exporteur wurden. Weitgehend wird übersehen, dass Russland auf dem zweiten Platz vor Katar bleibt.
So sind auch die europäischen Importe von russischem LNG im vergangenen Jahr um etwa 50% gestiegen. Der größte Teil dieses Flüssigerdgases gelangt aus Russland über Novatek (NVTK) nach Europa. Dies ist ein russisches Unternehmen ohne bekannte Kreml-Verbindung, das bis vor wenigen Wochen auch TotalEnergies zu seinen Anteilseignern zählte. Der französische Ölkonzern zog allerdings seine beiden Mitglieder aus dem Vorstand des Unternehmens ab und kündigte am 9. Dezember eine Abschreibung in Höhe von 3,7 Mrd. auf den 19,4-prozentigen Anteil an Novatek an.
Kritisch sind aber auch Europas Regasifizierungskapazitäten. "Hier gab es in Europa Engpässe“, sagt Giovanni Sgaravatti von Bruegel, „zum Beispiel nutzte Polen in der zweiten Januarwoche 100% seiner Regasifizierungskapazität und andere Länder kamen nahe daran.“
Investitionen in Regasifizierungsinfrastruktur laufen daher auf Hochtouren. Deutschlands Bemühungen zeigen bereits erste Erfolge: Drei neue FSRUs (Floating Storage and Regasification Units) sind in Lubmin, Wilhelmshaven und Brunsbüttel in Betrieb, drei weitere Terminals sind in Planung. Zwar steht Berlin an der Spitze der Regasifizierungsoffensive, aber es ist nicht allein: Das erste schwimmende Regasifizierungsterminal, das vor der italienischen Küste eingesetzt wird, soll bis Mai in Betrieb gehen.
Eine Frage ist jedoch, woher das LNG kommen soll. Die US-Exportkapazität hat bereits ein Allzeithoch erreicht. Gleichzeitig dürfte die chinesische Nachfrage nach LNG steigen, da die wirtschaftliche Erholung von der Pandemie an Fahrt gewinnt.
Die steigende Bedeutung der chinesischen Nachfrage
Unserer Ansicht nach werden die rasche Lockerung der Null-Covid-Politik und Pekings Industriepolitik dazu beitragen, dass sich die chinesische Wirtschaft im ersten Hlabjahr 2023 schnell erholt, sagt Christiaan Tuntono, Senior Economist bei Allianz Global Investors. „Gegenüber einer bescheidenen statistischen Basis im Jahr 2022 könnte das Wachstum im Jahr 2023 auf ein Niveau zurückkehren, das dem Potenzial entspricht (4,5 % bis 5 %) oder darüber.“
Europas Wettbewerb mit Asien um LNG hat auch zu einer Umkehrung der Preisdynamik am Weltmarkt geführt. Historisch gesehen kostete Gas in Europa weniger als LNG in Asien, aber die Knappheit und der Krieg hatten dies gedreht. Aber inzwischen haben das Wetter und volle Speicher den TTF-Preis wieder unter den JKM (Japan Korea Marker) gedrückt, erklärt Massimo Nicolazzi, Professor für Ökonomie der Energiequellen an der Universität Turin.
Dies bedeutet, dass der chinesische Verbrauch neben Wetter und Infrastruktur zu einem wichtigen Faktor am europäischen Gasmarkt geworden ist. „Im Jahr 2022 gingen die chinesischen LNG-Importe um 21 Mrd. Kubikmeter zurück, während die Pipeline-Importe um 5 Mrd. Kubikmeter stiegen. Wir erwarten, dass die Importe aus Russland per Pipeline im Jahr 2023 weitere 7 Mrd. Kubikmeter bringen werden. Was mit dem Konsum in China im jetzt etablierten Post-Covid-Regime passieren wird, ist schwer vorherzusagen. Wenn die Nachfrage jedoch wieder anzieht, wird es hauptsächlich für LNG sein, und das wird keine gute Nachricht für die europäischen Preise oder Lieferungen sein", sagt Nicolazzi.
Der überraschende Erfolg Europas bei der Beschaffung von LNG in diesem Jahr wurde durch die geringere chinesische Nachfrage getragen. Wenn die chinesischen LNG-Importe nun wieder zu den Mengen von 2021 zurückkehren und die russischen Lieferungen nach Europa auf null sinken, würde die EU nach Analysen von Standard & Poors und der Internationalen Energieagentur (IEA) zwischen Sommer und Herbst 2023 ein Loch von rund 30 Milliarden Kubikmetern füllen müssen.