Vor knapp über einem Jahr verwandelte sich die europäische Verteidigungsindustrie übernacht vom umstrittenen Außenseiter zum brandaktuellen Investitionsgebiet. Vollmundige politische Ankündigungen wie Deutschlands 100-Milliarden-Euro-Sonderfonds und Frankreichs Ziel, die Verteidigungsausgaben bis 2030 zu verdoppeln, elektrisierten Werte wie Rheinmetall, welcher in der Woche nach Putins Invasion um 60% zulegte.
Zwei Dinge wurden im anfänglichen Aktienrausch vergessen: Erstens bestimmen Trägheit und Zögern die europäische Sicherheitspolitik. Zweitens haben sich die europäischen Waffenhersteller in einer drei Jahrzehnte langen Durststrecke stark verkleinert, um trotz seltener Aufträge ihre Fertigkeiten und Geschäftsmodelle zu erhalten. Das bedeutet, dass der plötzlich neu entfachte Hunger der Regierungen nach Rüstungsgütern erst nach jahrelanger Vorlaufzeit gesättigt werden kann.
Ein Jahr ohne Bewegung
Rheinmetall (RHM), Deutschlands größter börsennotierter Hersteller schwerer Waffen und wahrscheinlicher Empfänger vieler der 100 Milliarden Euro Deutschlands, hat sich in seinem Gesamtjahresbericht kurz nach der Invasion ein organisches Umsatzwachstumsziel von 15-20% gesetzt. In der Prognose nach dem ersten Quartal hatte das Unternehmen hinzugefügt, das Wachstumsziel setze voraus, dass deutsche Rüstungsaufträge tatsächlich zustande kommen. Zum Halbjahr orientierte sich das Unternehmen bereits am unteren Ende seiner Spanne und verwies dabei auch auch auf Gegenwind im Automobilsegment. Im Januar, noch immer ohne einen einzigen großen Verteidigungsauftrag aus Deutschland, meldete Rheinmetall eine vorläufige Wachstumrate von nur 10%.
Ironischerweise liegt das innerhalb der ursprünglichen Prognose für 2022-- welche den Krieg und das deutsche Sonderbudget nicht einerechnet hatte. Finale Ergebnisse und eine Prognose für das neue Geschäftsjahr stehen am 16. März an.
Es wäre allerdings kein Fehler gewesen, vor einem Jahr in Rheinmetall zu investieren. Mit einer Rallye von 179% seit Russlands Einmarsch gehört die Aktie zu den Top-Performern in der europäischen Luft-, Raumfahrt- und Verteidigungsbranche. Elf Analysten stufen sie mit „Kaufen“ ein, nur zwei raten zum halten und keine davon zum verkäufen. Rivalen im Sektor hatten es schlimmer.
Leonardo im Hintertreffen
Die Aktien von Italiens größtem Luftfahrt- und Verteidigungsunternehmen Leonardo (LDO) beendeten das Jahr 2022 nur 20% über dem Niveau vor der Invasion. Zur mauen Performance trägt wohl die Zusammensetzung von Leonardos Kunden bei: In einer Mitteilung vom 30. Januar hob UBS-Analyst Ian Douglas-Pennant hervor, dass 55% des Umsatzes aus Italien, Großbritannien und den USA kommt. Alle gaben entweder bereits vor 2022 einen hohen Anteil des BIP für die Verteidigung aus, oder haben begrenzten finanizellen Spielraum – im Gegensatz zu Deutschlands niedriger Vorkriegs-Ausgaben und fiskalischer Handlungskraft.
In einer positiveren Einschätzung führt Christophe Menard von der Deutschen Bank Leonardos Underperformance auf Italiens Länderrisikoprämie und Inflationssorgen zurück. Er sieht 40% Aufwärtspotenzial für die Aktie.
„Noch haben wir die Auswirkungen des Ukraine-Krieges auf den Auftragseingang nicht gesehen“, schrieb Menard im Januar. Er und Douglas-Pennant von der UBS scheinen sich darin einig zu sein, dass es Aufwärtspotential gibt, sollte Leonardo den Zuschlag für einen Teil des deutschen Sonderbudgets erhalten. Ob sie recht haben wird sich weisen, wenn Deutschland tatsächlich Verträge abschließt.
Vorerst deutet Leonardos eigene Prognose auf einen Auftragseingang im Geschäftsjahr 2022 hin, der nur 12 % über dem von 2021 liegt. Etwa die Hälfte dieses Anstiegs ist auf eine polnische Hubschrauberbestellung im vergangenen Juli zurückzuführen.
Übergangsphase
Es liegt in der Natur hyperkomplexer militärischer Hardware, dass Jahre vergehen, bis Auftragseingänge im Umsatz eines Unternehmens ankommen. Menard von der Deutschen Bank geht davon aus, dass ukrainebezogene Aufträge 2023 endlich zustande kommen und 2022 zu den Rekordauftragsbüchern beitragen werden. Vorerst, so Menard, befinden wir uns in einer „Übergangsphase“, in der sich ein konfliktbedingtes Umsatzwachstum nicht vor 2024 zeigt.
Ein Zeichen dafür, dass das Jahr der schleppenden Aufträge vorbei sein könnte, ist der Führungswechsel im Januar im Bundesverteidigungsministerium. „Die Ernennung von Boris Pistorius zum deutschen Verteidigungsminister als Nachfolger von Christine Lambrecht könnte ein Auslöser für eine beschleunigte Auftragsvergabe sein,“ so Menard. Vor ihrem Ausstieg sah sich Lambrecht immer wieder Kritik wegen fehlender Entschlossenheit und zu langsamer Umsetzung ausgesetzt. Vor 2022 wäre das wohl kein karrierebeendender Makel gewesen.
Dieser Artikel erschien ursprünglich auf morningstar.co.uk und wurde übersetzt.