Wie erwartet hat die Europäische Zentralbank (EZB) auf ihrer letzten Sitzung des Jahres am Donnerstag beschlossen, die Zinssätze unverändert zu lassen. Die Zentralbanker bekräftigten außerdem, dass keine weiteren Zinserhöhungen erforderlich sind, um die Inflation in Schach zu halten. Lagarde sagte aber auch, dass "wir überhaupt nicht über Zinssenkungen gesprochen haben".
Die Bank senkte ihre Inflationsprognose im Vergleich zu ihrer vorherigen Prognose vom September sowohl für 2023 als auch insbesondere für 2024 erheblich. Die Bank erwartet nun eine durchschnittliche Inflationsrate von 5,4 % im Jahr 2023 (September-Prognose: 5,6 %), 2,7 % (September: 3,2 %) im Jahr 2024, 2,1 % (September: 2,1 %) im Jahr 2025 und 1,9 % im Jahr 2026. "Die Inflation hat sich von den zweistelligen Werten von Ende 2022 weit entfernt", sagt Michael FIeld, Morningstar European Market Strategist.
Der Euro setzte seinen Aufwärtstrend gegenüber dem US-Dollar nach der Zinsentscheidung fort. Die Währung war bereits nach der Zinsentscheidung der US-Notenbank am Mittwoch, die den Greenback belastete, sprunghaft angestiegen. Die Aktienmärkte reagierten mit Abschlägen.
Erste Reaktionen
Laut Carsten Brzeski, Ökonom bei der ING Bank, habe die EZB eine "erste vorsichtige dovishe Wende" vollzogen. "Die soeben veröffentlichte Grundsatzerklärung signalisiert, dass zumindest das Ende der Zinserhöhungen gekommen ist. Die Formulierung "die Inflation wird voraussichtlich zu lange zu hoch bleiben" ist aus dem Statement verschwunden. Gleichzeitig ist jedoch die Formulierung, dass "die Zinssätze so lange wie nötig auf einem ausreichend restriktiven Niveau festgesetzt werden", immer noch in der offiziellen Mitteilung enthalten, sagte er.
Vor der heutigen Sitzung hatten die Finanzmärkte bereits Zinssenkungen der EZB um insgesamt 150 Basispunkte für das nächste Jahr eingepreist.
Lagarde betonte, dass der Lohnkostendruck immer noch zu hoch sei und die Finanzierungsbedingungen am Markt angespannt bleiben müssten. Das war ein klares Signal gegen schnelle und umfangreiche Zinssenkungen, sagt Johannes Mayr, Chefvolkswirt bei Eyb & Wallwitz. Die schwachen Wirtschaftsdaten dürften diese Entschlossenheit in den kommenden Monaten jedoch auf die Probe stellen.
Die EZB kündigte außerdem an, ihre Bilanz zu straffen und die Reinvestitionen im Rahmen des Pandemieankaufprogramms (PEPP) in der zweiten Jahreshälfte 2024 schrittweise auslaufen zu lassen.
"Die Notenbank hat aber angekündigt, die PEPP-Reinvestitionen schon ab Mitte kommenden Jahres auslaufen zu lassen. Damit dürfte sie eine erste Zinssenkung im zweiten Halbjahr 2024 vorbereiten", sagt Michael Holstein, Chefvolkswirt der DZ Bank. Dies sei später, als viele Marktteilnehmer erwartet hätten, insbesondere nach der dovishen Fed-Sitzung vom Mittwoch.
"Die abwartende Haltung macht Sinn, da die Konjunktur und insbesondere der stabile Arbeitsmarkt nicht zum sofortigen Handeln zwingen", fügt er hinzu.
"Die Erklärung der EZB zu ihrer jüngsten geldpolitischen Entscheidung ist recht milde ausgefallen", kommentiert Katharine Neiss, Chief European Economist bei PGIM Fixed Income. "Der Ton ist weiterhin restriktiv: Die Inflation ist hoch, die Löhne und Gehälter ebenfalls."
Die wichtigste Änderung betreffe die Pläne der EZB zur Reinvestition des PEPP. "Auf den ersten Blick würde ein schnellerer Abbau der Bilanz darauf hindeuten, dass sich die Zentralbank immer noch im Normalisierungsmodus befindet und noch nicht in der Phase der Lockerung", sagt sie. "Der Markt dürfte dies jedoch aus zwei Gründen als eine dovishe Ausrichtung auffassen. Erstens ist das Tempo des Auslaufens geringer, als viele Marktteilnehmer erwartet hatten. Zweitens wird durch die Vorankündigung der PEPP-Auslaufpläne im Jahr 2024, die nun geräuschlos im Hintergrund ablaufen können, der Weg für die EZB geebnet, die Zinssätze bei Bedarf rascher zu senken."
Lagarde: Inflation wird zunächst wieder steigen
Lagarde betonte außerdem: "Die Inflation ist in den letzten Monaten zwar gesunken, dürfte aber aufgrund von Basiseffekten in nächster Zeit vorübergehend wieder anziehen". Das starke Lohnwachstum in Verbindung mit der sinkenden Produktivität bedeutet, dass die Inlandspreise weiterhin hoch sind. Aufwärtsrisiken für die Inflation gehen außerdem von den geopolitischen Spannungen im Nahen Osten sowie möglichen extremen Wetterereignissen aus.
Wachstum wird sich langsam erholen
Die Ökonomens gehen zudem davon aus, dass das Wirtschaftswachstum in nächster Zeit gedämpft bleiben wird. Die Wirtschaft werde sich auch aufgrund steigender Realeinkommen - da die Menschen von der sinkenden Inflation und den steigenden Löhnen profitieren - und der anziehenden Auslandsnachfrage erholen.
Die Bank geht daher davon aus, dass sich das Wachstum von durchschnittlich 0,6 % im Jahr 2023 auf 0,8 % im Jahr 2024 und auf 1,5 % in den Jahren 2025 und 2026 beschleunigen wird. Im dritten Quartal schrumpfte die Wirtschaft in der Eurozone um 0,1 %.
Die EZB ist wohl die Zentralbank, die am ehesten zu stark an der Zinsschraube gedreht hat, und zwar möglicherweise in erheblichem Umfang, sagte Quentin Fitzsimmons, Senior Portfolio Manager bei T. Rowe Price, in einem früheren Statement.
Nur in Norwegen steigen die Zinsen weiter
Die US-Notenbank hatte bereits am Mittwoch beschlossen, die Zinssätze unverändert zu lassen, ebenso wie die Bank of England (BoE) und die Schweizerische Nationalbank (SNB) am Donnerstag. Norwegens Zentralbank wählte einen anderen Weg und beschloss, den Leitzins von 4,25 auf 4,5 % anzuheben. "Wir sehen, dass sich die Wirtschaft abkühlt, aber die Inflation ist immer noch zu hoch", sagte Gouverneurin Ida Wolden Bache. Aber Oslo ist fertig mit Zinserhöhungen, sagte sie weiter.
Der US-Leitzins liegt derzeit in einem Zielbereich von 5,25 % bis 5,50 %, nachdem er zwischen März 2022 und Juli 2023 um 5 Prozentpunkte angehoben wurde. Die meiste Aufmerksamkeit galt der Frage, ob die Fed weitere Zinssenkungen ankündigen würde. "Wir glauben, dass sechs Zinssenkungen den Leitzins bis Ende 2024 auf 3,75 - 4,00 % senken werden. Das entspricht der mittleren Erwartung des Futures-Marktes für Bundesanleihen laut CME-Tracker", sagte Preston Caldwell, US-Chefökonom bei Morningstar.