Im dritten Teil unserer Serie über klassische Verhaltensmuster bei Anlegern (hier kommen Sie zum ersten Teil,Teil II finden Sie hier) widmen wir uns heute dem Thema Verlustaversion. Wir werden genauer beleuchten, was man darunter versteht und wie der Anleger mit der Angst vor Verlusten umgehen kann. „Verlustaversion“ beschreibt die Erkenntnis, dass es einem Investor wichtiger ist, keinen Verlust zu erleiden als einen Gewinn einzustreichen. Erinnern Sie sich an meinen Beitrag von vergangener Woche? Dann sollte Ihnen dieses Phänomen bekannt vorkommen. Wie sehr sich ein Anleger vor Verlusten fürchtet, hängt von seiner persönlichen Einstellung zu Gewinnen und Verlusten ab, ein Faktor, den wir „Entscheidungsgewicht“ nannten. Entscheidungsgewichte haben ihrerseits mehrere Eigenschaften, und ihr Wert wird von der Eintrittswahrscheinlichkeit eines Ereignisses bestimmt. Das Phänomen der Verlustaversion wurde erstmals von den Wissenschaftlern Kahneman, Knesch und Thaler beschrieben. Sie führten eine Reihe von Tests durch, die sie 1990 in ihrer Arbeit „Experimental Tests of the Endowment Effect and the Coase Theorem“ vorstellten (der Bericht ist hier abrufbar, leider aber kostenpflichtig. Hier finden Sie eine spätere Abhandlung derselben Autoren, in der Sie die Erkenntnisse in einer etwas gestrafften Form kostenlos nachlesen können).
Die drei Wissenschaftler zeigten mithilfe ihrer Experimente, dass die Entwicklung der Entscheidungsgewichte 1.) von der Abweichung von einem Referenzpunkt abhängt, 2.) die Präferenz von Gewinnen in einer konkaven Kurve und bei Verlusten in einer konvexen Kurve verläuft und 3.) sich die Kurve bei Verlusten steiler als bei Gewinnen verändert. Ein Funktionsgraph der Universität von North Carolina führt uns diese Eigenschaften deutlich vor Augen:
Funktionsgraph der neuen Erwartungstheorie
Was die Grafik besagt: Steigt der Gewinn einer Investition um einen gewissen Betrag, steigt auch die Zufriedenheit des Investors. Steigt jedoch der Verlust um eben diesen Betrag, reagiert der Investor stärker: seine Unzufriedenheit nimmt in größerem Maße zu, als seine Zufriedenheit bei einem Gewinn steigt.
Der ungewöhnliche (und irrationale) Verlauf der s-förmigen Kurve beschreibt das Phänomen der Verlustaversion. Der Investor ärgert sich stärker über einen Verlust in einer gewissen Höhe, als er sich über einen Gewinn in eben dieser Höhe freuen würde. Lassen Sie mich noch einmal klarstellen: Dieser Funktionsgraph ist nicht hypothetisch. Er stellt vielmehr das Resultat einer Reihe von Experimenten dar, mit denen erforscht wurde, welchen Stellenwert Personen in einer unsicheren Situation einem Gewinn oder Verlust beimessen. Einige Verhaltensforscher schätzen sogar, dass ein Verlust als doppelt so schmerzhaft empfunden werden kann wie die Freude, einen Gewinn in gleicher Höhe zu erhalten.
Es ist uns beim Investieren also wichtiger, unser Kapital zu erhalten als es zu vermehren. Das spiegeln auch die berühmten Grundsätze von Warren Buffett wider. Sein erstes Gebot lautet: Kein Geld verlieren! Sein zweites Gebot: Beachte Gebot Nummer eins! Das verdeutlicht, wie voreingenommen wir Investoren sind. Wir zögern, einen unrealisierten Verlust in einen realisierten Verlust zu verwandeln. Wir tendieren dazu, eine Verlust bringende Investition zu halten, in der Hoffnung, dass unsere ursprüngliche Einschätzung dieser Investition doch nicht falsch war. Oder wir verkaufen zu hastig, aus Angst, einen noch größeren Verlust zu erleiden, wenn der Kursrutsch weitergeht. Unsere Einschätzung, was ein Verlust und was ein Gewinn ist, bezieht sich dabei auf einen Referenzpunkt, der üblicherweise dem Kaufpreis der Investition entspricht. Das ist aber der falsche Ansatz: Denn wenn wir den Wert einer Investition an ihrem ursprünglichen Kaufpreis messen, hält das uns davon ab, fundierte Entscheidungen für die Zukunft zu treffen.
Wie hilft uns nun all dieses Wissen bei unseren Investitionen? Zunächst ist es sehr wichtig, sich klarzumachen, dass der Mittelpunkt in dem Funktionsgraph, der „Status quo“, die Entscheidung für eine risikolose Investition (wie in der vergangenen Woche diskutiert) darstellt. Wer in einen Indexfonds investiert, hat als Referenzpunkt einen Markt. Die zu erwartende Rendite entspricht also wegen der Investition in einen börsennotierten Fonds oder ein ETP der Entwicklung des Marktes. Der Investor geht also nicht das „Risiko“ ein, eine im Vergleich dazu über- oder unterdurchschnittliche Rendite zu erzielen. Die in dem Graph dargestellten Verluste oder Gewinne werden erst bei einer aktiven Handelsstrategie erreicht. Dabei ist zwar beabsichtigt, eine Outperformance zu erzielen, oft bringt eine aktive Handelsstrategie aber auch eine unterdurchschnittliche Rendite ein. Die Verlustaversion hat daher die schlimmsten und deutlichsten Auswirkungen auf die Psyche des Investors, wenn dieser eine aktive Handelsstrategie einer passiven Investitionsstrategie vorzieht und ihm dieser Entschluss Verluste einbringt.
Und was sollen diese Ausführungen in der Praxis bringen? Nun, es ist schon viel gewonnen, wenn uns diese neuen Erkenntnisse helfen, sich des eigenen Vorgehens bewusst zu werden. Vielleicht halten wir ja das nächste mal kurz inne, bevor wir eine spontane Investitionsentscheidung treffen. Im besten Fall aber führt das Wissen um unsere Verlustaversion dazu, dass wir - ganz im Sinne der neuen Erwartungstheorie - systematischer und rationaler investieren.
Bei einer aktiven Vorgehensweise sollte ein Investor gemäß der neuen Erwartungstheorie die Gewinnaussichten einer Investition prüfen, indem er abwägt, welche Gewinnchancen das Papier zum aktuellen Kurs im Vergleich zum Status quo hat, und nicht, indem er die vergangene Kursentwicklung mit dem ursprünglichen Kaufpreis vergleicht. Bei dieser kritischen Neubewertung muss der Investor aber aufpassen, dass er nicht seiner Verlustaversion zum Opfer fällt.
Im Alltag ist das leichter gesagt als getan. Und genau darin liegt auch ein Vorteil von passiven Investmentprodukten. Setzt ein Investor auf ein Papier, das einen Index nachbildet , muss er nicht immer wieder seine Investitionsentscheidung auf den Prüfstand stellen (zumindest, was die relative Entwicklung des Produktes angeht, ob die Investitionsstrategie als solche beziehungsweise ihre grundlegenden Parameter Sinn machen, muss man als Anleger natürlich regelmäßig überprüfen). Denn schließlich muss nicht neu eingeschätzt werden, wie wahrscheinlich eine überdurchschnittliche Entwicklung ist, wie hoch die erhoffte Outperformance ausfallen dürfte und auch nicht, wie groß unser Risikoappetit ist. Warum nicht? Weil ein ETP den Index abbildet, der Maßstab für unsere Investitionsentscheidung ist. Da bei einer Investition in ETPs keine über- oder unterdurchschnittliche Entwicklung zu erwarten ist, stellt das Phänomen Verlustaversion somit auch keine große Gefahr dar.
In der kommenden Woche nehmen wir den so genannten „Besitzeffekt“ unter die Lupe. Das auch als „endowment effect“ bekannte Verhalten ist möglicherweise eine der hartnäckigsten schlechten Angewohnheiten, die sich ein Investor besser abgewöhnen sollte.